
In den Herbstferien musste ich einmal mehr merken, dass Sport nicht nur unglaublich gut tut, sondern auch seine Gefahren mit sich bringt. So endete eine Velofahrt entlang wunderschönen Stränden in einem Sturz mit dem Resultat einer Ellbogenfraktur. Das erste Mal in meinem Leben wurde ich krankgeschrieben, was bedeutete, Zuhause rumzusitzen und dabei Geld zu verdienen. Ein komisches Gefühl, welches mich einerseits dankbar machte für die guten Versicherungen in der Schweiz, andererseits forderte es mich heraus, da ich mich schlecht fühlte. Schlecht, da ich das Gefühl hatte, mein Team im Stich zu lassen und weil mir immer wieder der Gedanke kam "äs würd doch scho ga". Ich merkte schnell, dass auch ich "Opfer" der stress- und leistungsorientierten Gesellschaft geworden bin, welche kaum eine Pause zulässt. So stand ich vor der Frage - will ich schnellstmöglich zurück ins Büro, da ich weiss, dass mich mein Team braucht oder entscheide ich mich auf den Arzt zu hören und mich länger als mir lieb ist krankzuschreiben. Ich entschied mich für letztere Option. Weshalb? Weil mir einerseits meine rasche Genesung wichtig ist und weil ich mir andererseits bewusst bin, dass ich dadurch für andere ein Vorbild darin sein kann, was es heisst, das zu leben, was ich als Arbeitspsychologin auch "predige", nämlich die Selbstsorge.
Denn leider ist die Diskrepanz zwischen dem, was wir wissen, das richtig ist, und dem, was wir tatsächlich tun, in der Arbeitswelt allgegenwärtig. Als Expert:innen auf dem Gebiet der Arbeitspsychologie haben wir ein umfassendes Verständnis dafür, wie Arbeit gestaltet sein sollte, um die Arbeitsbelastung zu senken sowie die Produktivität und Entwicklung der Mitarbeitenden zu fördern. Diese Faktoren beeinflussen sich alle gegenseitig und sind essenziell für die Gesundheit, Zufriedenheit und die langfristige Bindung der Mitarbeitenden. Auch sensibilisieren wir Unternehmen auf Präsentismus (arbeiten trotz Krankheit), welcher für Unternehmen sehr hohe Kosten verursacht. Doch Wissen und Informieren allein reicht nicht aus. Die Herausforderung besteht darin, dieses Wissen in die Tat umzusetzen. Es bedeutet, bewusst Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit den Prinzipien stehen, die wir predigen. Leider befinden wir uns in einer Zeit, in der Stress und Leistung oft den Ton angeben. Dies endet bei vielen Personen in psychische Krankheiten. Etliche Studien zeigen auf, dass ein Viertel der erwerbstätigen Schweizer:innen Burnout-gefährdet sind. Erfreulicherweise beschäftigen sich Unternehmen deshalb immer mehr mit dem Thema Selbstsorge / betriebliches Gesundheitsmanagement. Die Frage ist allerdings, sprechen sie nur davon oder haben sie diese Haltung tatsächlich auch in ihrer Führungs- und Unternehmenskultur verankert?
Führung als Vorbild für eine gesunde Arbeitskultur
Die Verantwortung, eine gesunde Arbeitskultur vorzuleben, liegt nicht nur bei den Mitarbeitenden, sondern besonders bei den Führungspersonen. Wie Führungspersonen selbst die Prinzipien einer ausgewogenen Life-Domaine-Balance, Selbstsorge und einer positiven Arbeitsatmosphäre vorleben, beeinflusst das Verhalten ihrer Mitarbeitenden - dies konnte ich in den letzten Jahren x-Mal beobachten. Die Vorbildrolle der Führungspersonen erstreckt sich über ihre Handlungen, ihre Kommunikation und ihre Entscheidungen im täglichen Arbeitsleben. Die Umsetzung von Arbeitsprinzipien erfordert Authentizität. Es ist nicht ausreichend, nur darüber zu sprechen, wie wichtig Selbstsorge ist – es muss gelebt werden. Authentizität bedeutet, den Mut zu haben, auch persönliche Grenzen zu akzeptieren und Massnahmen zu ergreifen, um die eigene Gesundheit und Zufriedenheit zu gewährleisten. Dieser authentische Ansatz schafft nicht nur ein gesundes Arbeitsumfeld, sondern inspiriert auch andere, diesem Beispiel zu folgen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist eine Führungsperson, die trotz einer Grippe die Wahl trifft, im Homeoffice zu arbeiten. Diese Entscheidung könnte den Mitarbeitenden gegenüber die stillschweigende Erwartung ausdrücken, dass auch sie im Krankheitsfall im Homeoffice tätig sein sollen und somit pusht sie unbewusst den Präsentismus, ohne sich dessen Konsequenzen bewusst zu sein. Hingegen, wenn die Führungsperson ihre Stärke demonstriert, sich krankmeldet und darauf vertraut, dass das Team sie für einige Tage ersetzen kann, sendet sie ein Signal der Selbstsorge und des Vertrauens in die Kompetenz des Teams.
Ein individueller Beitrag zur Veränderung
Es reicht nicht aus, sich auf die Gesellschaft oder das Unternehmen zu verlassen, um eine positive Veränderung herbeizuführen. Jeder Einzelne von uns kann einen Beitrag leisten, indem er bewusste Entscheidungen trifft und sein eigenes Verhalten reflektiert. "Leben, was man predigt" in der Arbeitswelt erfordert mehr als nur Worte. Es erfordert eine bewusste Anstrengung, das Wissen in die Tat umzusetzen, eine authentische Vorbildrolle zu übernehmen und individuell zur Veränderung beizutragen - sei dies als Arbeitspsychologin oder in jedem anderen Beruf.